Vor wenigen Wochen erschien im Verlag Henselowsky Boschmann das neueste Werk von Stefan Laurin, der – als Journalist und Ruhrbaron – das Ruhrgebiet und seine Geschichte seit Jahren kritisch begleitet.
Klar: Wenn der Ruhrbaron ein Buch schreibt, liest man das gerne. Und wenn das Thema die SPD ist, wird die Lektüre für einen ehemaligen – zweifachen – Sozialdemokraten fast zur Pflicht. Gestern habe ich “Beten Sie für uns!” – Der Untergang der SPD (im Ruhrgebiet und anderswo gelesen.
Vorab: Ich habe – zu meiner großen Überraschung – überhaupt nicht das bekommen, mit dem ich eigentlich gerechnet habe.
Überraschende Nebeneffekte des Buches
Ich würde mich nicht unbedingt als größten Fan der Sozialdemokratie bezeichnen. Es gibt sehr viele sozialdemokratische Positionen – in der Außen- und Sicherheitspolitik z.B. – die ich komplett ablehne. 1989 bin ich in die SPD eingetreten. Oder genauer: Bei der Jusos, das war ja irgendwie fast ein eigenes Ding damals. 1993 bin ich ausgetreten, im Rahmen der Neuregelung des Asylrechtes. Diese war nicht der Grund für den Austritt, sondern der Umgang und die innerparteiliche Diskussion – damit meine ich jetzt meinen damaligen Ortsverein – zu diesem Thema.
1997, nach einem längeren Gespräch mit ehemaligen Genossen bei irgendeinem Infostand, bin ich wieder eingetreten. Es gab ja auch viel zu tun und die Zeiten waren spannend: Gerhard Schröder und Franz Müntefering bereiteten den sozialdemokratischen Einzug ins Bundeskanzleramt vor. Die Stimmung war euphorisch und ansteckend. Da hat man sich gerne wieder eingemischt.
2002, kurz nach dem Wahlsieg der SPD, habe ich der Partei den Rücken gekehrt: Zum einen wegen ihrer Position zur damals bevorstehenden Invasion durch die Koalition der Willigen im Irak, zum anderen wegen des Umgangs in der Diskussion bei der Verschärfung des Jugendmedienschutzes nach dem Amoklauf von Erfurt. In einem SPD-Forum verschwanden damals plötzlich Beiträge, die nicht genehm waren: Guter Umgang war das nicht.
Der überraschendste Effekt von “Beten Sie für uns!” für mich ist: Der Gedanke “Vielleicht ist es doch nicht die schlechteste Idee, sich in dieser Partei zu engagieren.” kam mir beim Lesen mehrmals.
Kommen wir zum Inhalt!
Nicht vom Untertitel blenden lassen!
Etwas Kritik vorab: Die Unterüberschrift “Der Untergang der SPD (Im Ruhrgebiet und anderswo)” wird dem Inhalt des Werkes nicht gerecht.
Die veränderte gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage in Deutschland und bundespolitische Entscheidungen der SPD, die für den derzeitigen Zustand der deutschen Sozialdemokratie verantwortlich sind, werden kurz, treffend und präzise beleuchtet. Der Klappentext “Stefan Laurin nennt Ross und Reiter” bringt es sehr gut auf den Punkt.
Herbert Wehner, langjähriger und legendärer Fraktionsführer der SPD im Bundestag, nannte Dortmund einst die “Herzkammer der Sozialdemokratie”. Stefan Laurin setzt den Fokus deshalb – auch weil er hier großgeworden ist und lebt – natürlich auf den Ruhrpott: Das Buch ist aber keine reine Analyse zur SPD im Ruhrgebiet oder in NRW.
Der ganze – aktuell etwas kranke – Körper der, einstmals so stolzen Volkspartei, SPD in ganz Deutschland liegt hier auf dem Operationstisch. Das man in so einem Fall besonders auf die Herzkammer blickt, macht Sinn.

Beim Thema Operationstisch bin ich beim anderen Aspekt des Buches, der mich überrascht hat: Stefan Laurin fällt bei Beiträgen die er schreibt, selten als riesiger Fan der deutschen Sozialdemokratie auf.
Und Texte zu Dingen die unschön sind – Nazis, die AfD, Antisemitismus, vermurkste Wirtschafspolitik – entsprechen in journalistischer Hinsicht oft einer Boing B-52 im Kampfeinsatz. Was grundsätzlich natürlich liebenswert und nicht verkehrt ist.
Ich habe deshalb, bevor ich das Buch in die Hand nahm, mit einer Abrechnung – wie bei den Roten Strolchen der Titanic-Redaktion aus den 90er Jahren gerechnet – nur halt in Textform.
Dem ist nicht so! Ich würde “Beten Sie für uns!” nicht unbedingt als Liebeserklärung an die SPD verstehen, aber als liebevollen Weckruf.
Der Operationstisch ist hier wirklich nur Operationstisch. Stefan Laurin arbeitet nicht als Pathologe, der die SPD obduziert, sondern als Arzt: Das Buch ist eine Diagnose eines kranken Patienten und ob der Patient stirbt oder überlebt – “ob die SPD dazu noch die Kraft hat, ist offen” – liegt natürlich einzig und allein bei den Mitgliedern der SPD.
Was überaus gelungen ist: Die umfangreichen Recherchen zeigen sehr gut die Entwicklungen, die zur Marke NRWSPD beitrugen. Die Verquickung des Landes NRW mit der SPD, der hier jahrzehntelang fest im Sattel saß: Im Land und in den Kommunen.
Diese Aufarbeitung ist vermischt mit der Beschreibung der Entwicklungen, die Stefan Laurin selber miterlebt hat: Vergessen oder übersehen hat er dabei nichts.
Das Thema “Medienstandort NRW” – unter dem ehemaligen NRW-Ministerpräsidenten Wolfgang Clement eine Chefsache – hatte ich z.B. gar nicht mehr auf dem Radar: Diese und andere Aspekte werden kritisch beleuchtet. Brennpunkte im Ruhrgebiet, natürlich ist Duisburg dabei, werden in die Analyse einbezogen.
Entwicklungen in NRW mit Auswirkungen auf die Bundes-SPD, die man vielleicht nicht mitbekommen hat – ich z.B. wegen 15 Jahren Abwesenheit aus dem Pott – kann man nachvollziehen.

Das Buch liest sich superflüssig und ist ein spannender Abriss über das heutige Dilemma der Sozialdemokratie.
Lesenswert für Sozialdemokraten: Die Antworten finden wollen auf die Frage, weshalb die SPD in der Lage ist, in der sie heute ist.
Lesenswert für ehemalige Sozialdemokraten: Die so vielleicht wieder etwas mehr Frieden mit der guten alten Tante SPD machen können und eventuell sogar wieder zu ihr zurückfinden.
Lesenswert für alle anderen politisch Interessierten, um die aktuelle Parteienlandschaft und Erfolge der sogenannten “AfD” zu verstehen.
Stefan Laurin
“Beten Sie für uns!”
Der Untergang der SPD
Verlang: Henselowsky Boschmann
Titelillustration: Oli Hilbring
128 Seiten · gebunden · 9,90 €
ISBN 978-3-948566-01-2
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